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Literaturtheorie

Die Gretchenfrage der Literaturwissenschaften stellt in gleich mehrfacher Hinsicht die Frage nach der Literaturtheorie dar. Man sieht ja nicht nur landauf landab genasführte Doktoranden mit verzweifeltem Blick und dem Ausruf: "I need theory!" durch ihre Dachzimmer stapfen, auch Damen und Herren Professoren sind immer auf der Suche nach einem theoretischen Trostpflaster, und sei es nur für den natürlich hypothetischen und höchst unwahrscheinlichen Fall, dass ihnen zu einem Text mal gefühlt zu wenig einfällt.

Für den Studiengebrauch wünschenswert wäre eine übersichtsartige, deutschsprachige Darstellung gängiger Literaturtheorien, mit der sich Studierende der Germanistik und anderer Neuphilologien einen raschen und grundsätzlichen Überblick zu relevanten Theoriebildungen verschaffen können. Zwar stehen mit den einschlägigen Bänden von Jonathan Culler und Terry Eagleton sehr gelungene Vorlagen zur Verfügung, jedoch behindern hier Fremdsprachigkeit und ein inhaltlicher Bias, der zu deutlichen Akzentverschiebungen bzw. einer angelsächsischen Perspektive auf maßgebliche Theoriebildungen führt, Rezeption und Seminar- bzw. Studientauglichkeit. Hier ist eine weitere, ganz grundsätzliche Einschränkung mitzudenken: nicht zuletzt aufgrund des Kosten- und Zeitdrucks verwenden viele Dozenten eigene Reader, deren Primärtextsammlungen auf studentische Kleingruppen verteilt sukzessive referatstechnisch abgearbeitet werden. Die Vorteile sind evident (geringe Vorbereitungszeit, geringe Kosten, bewertbare Leistungen im Seminarverlauf), die Nachteile ebenso (Klinken- bzw. Ostereierdidaktik, Anfälligkeit für Rauschen bzw. reinen Blödsinn, punktuelle Aufmerksamkeit(-sdefizite) der Dozierenden/Studierenden).
Die meisten Nennungen bei meiner nichtrepräsentativen Kollegenbefragung entfielen bei deutschsprachigen Publikationen auf Oliver Jahraus, Rainer Baasner/Maria Zens, Jochen Hörisch und Achim Geisenhanslüke, wobei zum Thema allgemein auch die Handbücher von Thomas Anz und Ansgar Nünning häufig erwähnt wurden, diese Nachschlagewerke aber aufgrund pragmatischer (Preis, Gewicht) und didaktischer Erwägungen (Nutzen) höchst selten in den Empfehlungslisten für Studenten auftauchen. Denn für die praktische Seminararbeit und das Studium werden von den meisten Dozenten ganz spezifische Erwartungen hinsichtlich der Lernziele formuliert, die sich entlang der folgenden Fragestellungen entwickeln lassen und abschließend in eine auf die literaturwissenschaftliche Praxis gerichtete Überlegung münden.

? Was sind die Grundlagen der Theorie?

Auf welchen Annahmen, Theorien, Theoremen, Modellen, Konzepten etc. baut die Theorie auf?

? Was ist der Gegenstand der Theorie?

Worüber trifft die Theorie Aussagen?

? Aussagen der Theorie

Welche Aussagen trifft die Theorie über ihren Gegenstand?

? Verhältnis zu anderen Theorien

Von welchen Theorien setzt sich die Theorie ab, welche ergänzt sie, mit welchen teilt sie bestimmte Grundannahmen?

? Zentrale Texte (als Literaturhinweise)

 

Ganz besonders erwünscht sind aber weiter gehende Überlegungen, welche die neue Theoriebekanntschaft anschaulicher und plastischer machen sollen. Dabei spielen Anwendungs- und Praxisorientierungen eine Rolle.

Soweit die Beobachtungen, jetzt folgt die Deutung. Was sind die Konsequenzen der Theoriebildungen für die Methodik der Literaturwissenschaft?

Die Bedeutung der Theorie für die Methodik oder
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Beobachtungen ...

  • für Textbegriffe?
  • für Autorschaftskonzepte?
  • für Gattungen, rhetorische Figuren und andere Beschreibungsschemata?
  • für Kontextbestimmung und -berücksichtigung?
  • für Bedeutung von LeserInnen?
  • für Wertungskriterien?

 Und damit wären wir bei der anfangs angedeuteten Gretchenfrage der Literaturwissenschaft:

Wie soll die literaturwissenschaftliche Praxis im Anschluss an die Theorie konkret verfahren?

Dem geht eine Auswahl voraus, die notwendig konventionell ausfällt. Dabei sollte der Studienführer idealerweise um die Stichworte Hermeneutik, Formalismus, Strukturalismus, Rezeptionsästhetik, Literatursoziologie, Literaturpsychologie, feministische Literaturwissenschaft, Cultural Studies, Film Studies, Gender/Queer Studies, Postkoloniale Literaturtheorie, Migrationsliteraturen, Poststrukturalismus, New Historicism und Kognitive Poetik angeordnet sein, um die wichtigsten Ansätze vorzustellen. Dabei könnten um die einzelnen Begriffe herum Themenblocks gebildet werden, innerhalb derer als strukturierende Elemente die prominentesten Vertreter vorgestellt werden. Zum Beispiel wären dann unter dem Generalnenner
Strukturalismus

  • Ferdinand de Saussure
  • Roland Barthes
  • Gerard Genette
  • Kognitive Linguistik

    subsumierbar, deren theoretische Postionen und Beiträge in der Folge nachvollziehbar und in ihren Anschlüssen zu anderen Theorie- bzw. Modellbildungen darzustellen wären. Hierbei ist an eine mit einer Skizze zu den Theoretikern eingeleitete Entwicklung der jeweiligen theoretischen Positionen im Umfang von möglichst nicht mehr als 12 Seiten gedacht, abgeschlossen mit einer Kurzbibliografie der wichtigsten behandelten Texte und einigen  Hinweisen auf weitere Sekundärliteratur zur Lektüreanbahnung. Um das anschaulich zu machen, folgt in der Buchversion hier ein Schaltabschnitt zum Strukturalismus, den man im Internet nicht ungestraft veröffentlichen kann. Leider.


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